Page 70 - Einkaufsführer für den Straßenbau Deutschland
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Unter höherer Gewalt ist generell ein unabwendbares Ereignis zu verstehen, das auch
durch Anwendung äußerster, den Umständen nach möglicher und dem Betreffenden
zumutbarer Sorgfalt nicht zu vermeiden war.
Höhere Gewalt ist ein objektiver Begriff, der im Zusammenhang mit der Verkehrssicherungspflicht bei
Bäumen immer nur im Sinn des zitierten Grundsatzurteils des BGH vom 21. 1. 1965 ausgelegt werden
kann. Folglich beruhen Schäden an Bäumen, die bei Sturm ab Windstärke 8 umstürzen, nicht von vorne-
herein auf höherer Gewalt, sondern nur dann, wenn das Umstürzen des Baumes ein nicht vorhersehba-
res Ereignis darstellt, dem mit angemessenen und zumutbaren Mitteln nicht rechtzeitig begegnet wer-
den konnte. Im Ergebnis bleiben also allein die fachlichen Kriterien und nicht die Windstärke für die
Vorhersehbarkeit von Schäden und die daran geknüpfte Haftungsbegründung entscheidend. Nach dem
genannten Urteil des BGH kommt es dabei auf den jeweiligen Stand der Technik und Erfahrungen an,
mit dem sich der Praktiker vor Ort ständig aufs Neue vertraut machen muss. Wenn dagegen ein Baum
beispielsweise durch Materialverschlechterung ohne äußerlich erkennbares Symptom bei Vorliegen der
Optimalgestalt versagt, liegt höhere Gewalt vor, unabhängig davon, ob zu diesem Zeitpunkt Wind
herrschte oder nicht und welche Windstärke herrschte. Andrerseits können bei Sturm auch gesunde
Bäume brechen, ohne dass die Bäume aus diesem Grund – wie es heute vielfach wegen überzogener
Sicherheitsanforderungen und aus übergroßer Angst vor Haftungsfolgen geschieht – bis auf ein Gerippe
zurückgeschnitten beziehungsweise gekappt werden müssen. Eine fachgerechte Baumpflege, auf die im
zweiten Teil und auch im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht für Naturdenkmale näher eingegangen
wird, führt auch bei älteren und vorgeschädigten Bäumen zu einem ausreichend verkehrssicheren
Zustand, der Haftungsfolgen ausschließt, selbst wenn der Baum bei Sturm versagen sollte.
ESD
2019