Page 80 - Einkaufsführer für den Straßenbau Deutschland
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Sofern biologisches Alter, Grundvitalität und Baumart die Möglichkeit bieten, setzt der Baum
Phytohormone frei, mit dem Ziel Knospen (Proventiv-/Adventivknospen) zu aktivieren bzw. auszudiffe-
renzieren, die dann ungeordnet, ja geradezu chaotisch als Reïterate austreiben. Mit dieser Vielzahl an
Reïteraten versucht der Baum so rasch wie möglich einen neuen Assimilationsapparat aufzubauen, um
dem akuten und devitalisierenden Energiemangel zu begegnen. Diesen Neuaustrieb (den Gesamtvor-
gang nennt man traumatische Reïteration) als Beleg für Schnittverträglichkeit darzustellen, kommt baum-
pflegerischem Zynismus gleich, zumindest stellt es einen ausgeprägten Mangel an Fachkenntnis dar.
Nach jedem Sägeschnitt (Zahlreiche Gefäße werden geöffnet, Luft dringt ein, es kommt zur Embolie.)
setzt eine Besiedlung durch holzabbauende Organismen ein; bei internodial gesetzten Schnitten jedoch
(also dort wo kein Verzweigungsknoten und keine Astschutzzone vorhanden ist) entwickelt sich stets
eine umfassende, zentrale Fäule, weil das Abschottungsvermögen in den Zonen zwischen Ver-
zweigungsknoten in der Regel schlecht ist und weil es in Ermangelung eines Zugastes zur Unter-
versorgung mit Assimilaten kommt. Nicht selten sterben größere Bast- und Kambialflächen ab,
Rindenablösungen zeigen sich, der gekappte Abschnitt wird gänzlich destrukturiert, zumindest bis
zum nächsten Nodium (Verzweigungsknoten). Der Assimilatemangel zieht nicht nur umfassende Aus-
faulungen und Morschungen in den Kappungsbereichen nach sich, er wirkt sich auch auf den ver-
holzten Wurzelkörper aus, auch dort kommt es zu Fäuleprozessen. Die Kappung führt immer zu gra-
vierenden biologischen Schäden, auch bei Jungbäumen. Schadenverlauf und Schadenumfang werden
dramatisch verstärkt, wenn der Baum bereits Probleme hat, sich in höherem biologischen Alter befindet,
ein nicht effektiver Kompartimentierer ist und je größer die Schnittverletzungen sind. In seriösen Baum-
pfleger- und Sachverständigenkreisen ist es unstreitig, dass durch Kappung die an sich mögliche
Lebenszeit drastisch verkürzt wird.
c. Kappung und biomechanische Folgen
Die Kambialaktivität (im Ergebnis: Längen- und Dickenzuwächse, Wachstumsspannungen, Holzeigen-
schaften, Form des Querschnittes) richtet sich maßgeblich nach den vom Baum lokal über das Kambium
wahrgenommenen Lasten. Dass dies so ist, wurde durch den herausragenden us-amerikanischen
Wissenschaftler TELEWSKI bewiesen und u. a. durch MATTHECK und den Verfasser dieses Beitrags
beschrieben. Durch die Kappung von Bäumen oder Baumteilen wird lokal der bis dato vorhandene
ESD
2019